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Informationen

ROOTINE – zwischen Systemtheorie, Kommunikation und Genesung

 

Die Systemtheorie von Niklas Luhmann (1927–1998) beschreibt die moderne Gesellschaft als ein Geflecht aus funktional differenzierten Teilsystemen – etwa Gesundheit, Bildung, Politik, Wirtschaft oder Recht. Diese Systeme funktionieren nach eigenen Regeln und kommunizieren in ihrer je spezifischen Sprache. Individuen können nur über „Zuschreibungen“ Teil dieser Systeme werden – z. B. als Patient:in, Klient:in, Arbeitskraft oder Fall. 

Ein wesentliches Problem dabei: Die Systeme kommunizieren selten miteinander – und noch seltener mit dem Menschen in seiner ganzen Komplexität. Gerade geflüchtete Frauen erleben dadurch einen fortlaufenden Bruch zwischen ihrer Lebensrealität und den Anforderungen der Systeme. Die Folge ist ein Zustand des Funktionierens ohne echte Teilhabe – oft verbunden mit Erschöpfung, Rückzug und dem Gefühl, dauerhaft fremd zu bleiben.  ROOTINE versteht sich als Brücke zwischen diesen Welten. Es begleitet Frauen mit Flucht- oder Migrationserfahrung, die sich in einer endlosen Schleife der Genesung befinden – zwischen Krankenstand, AMS-Maßnahmen, Reha-Aufenthalten und Rückfällen. Viele dieser Frauen tragen die Folgen einer sequentiellen Traumatisierung in sich: Belastungen, die sich über Jahre hinweg akkumulieren – von Gewalt und Flucht über Isolation bis hin zu integrationsbedingter Überforderung.

ROOTINE wirkt an der Schnittstelle von psychosozialer Stabilisierung, Systemübersetzung und Selbstermächtigung. Es schafft Raum für Erholung und Orientierung – bevor der nächste Zusammenbruch erfolgt. Die Frauen werden gesehen, gehört und gestärkt – nicht nur als Funktionseinheit, sondern als ganze Menschen mit Geschichte, Körper und Gefühl. 

Diese systemisch orientierte, traumasensible und kulturspezifische Arbeit ist einzigartig. ROOTINE unterbricht den Kreislauf der Überforderung – und ermöglicht nachhaltige Genesung. Denn Integration beginnt dort, wo Kommunikation möglich ist – nicht nur zwischen Mensch und System, sondern auch in sich selbst.

 

 

 

Sequenzielle Traumatisierung – Erklärung für ROOTINE

 

Das Konzept der sequenziellen Traumatisierung wurde vom deutsch-jüdischen Psychoanalytiker Hans Keilson (1909–2011) geprägt. In seiner Langzeitstudie mit jüdischen Kindern, die den Holocaust überlebt hatten, erkannte er, dass Traumatisierung nicht nur durch ein einzelnes Ereignis entsteht, sondern durch eine Abfolge belastender Erfahrungen über verschiedene Lebensphasen hinweg. Er zeigte, dass nicht nur das traumatische Ursprungserlebnis – z. B. Krieg oder Flucht – psychisch belastend ist, sondern auch das, was danach geschieht: das Ankommen, die Unsicherheit, Isolation und das fehlende Umfeld zur Verarbeitung.

 

Die Traumaexpert:innen Prof. Dr. David Becker und Dr. Barbara Weyermann haben Keilsons Modell weiterentwickelt und auf moderne Flucht- und Migrationsverläufe angewendet. Sie identifizierten mindestens sechs typische Phasen, die sich potenziell kumulativ traumatisierend auswirken: 

 

  1. Gewalt und Unsicherheit im Herkunftsland 

  2. Fluchterfahrungen (oft lebensbedrohlich)

  3. Ankommen im Aufnahmeland (rechtliche Unsicherheit, Isolation)

  4. Integrationsdruck und strukturelle Ausgrenzung 

  5. Überforderung durch Care-Arbeit, Sprache, Existenzsicherung 

  6. Systemische Erschöpfung (z. B. Krankenstände, Maßnahmenabbrüche, Rückzug)

 

ROOTINE greift genau an dieser Stelle ein: Wir erkennen die Dynamik sequenzieller Traumatisierung an und bieten Frauen mit Flucht- oder Migrationserfahrung einen stabilisierenden Raum, bevor sich psychische und soziale Überforderung weiter chronifiziert. 

Viele betroffene Frauen durchlaufen nach ihrer Ankunft ein jahrelanges „Hamsterrad der Integration“: Sprachkurse, Kinderbetreuung, AMS-Maßnahmen, Pflege von Angehörigen, Arbeitssuche – alles gleichzeitig, unter hohem Druck und oft ohne Anerkennung. Nach außen wirkt dieses Funktionieren wie gelungene Integration. Doch innerlich steigt die Erschöpfung, bis es zu einem Zusammenbruch kommt.

Unsere Arbeit bei ROOTINE zielt darauf ab, genau diesem inneren Kollaps vorzubeugen. Wir schaffen Zeit, Raum und Stabilität – für die Wiederherstellung von Selbstwirksamkeit, Orientierung und Würde. Denn Stabilisierung ist nicht das Ende, sondern der Anfang echter Integration.